Kinder sind keine Erwachsenen. Sie entwickeln sich erst im Lauf ihres Lebens dazu. Diese Entwicklung zu verstehen, ist ganz entscheidend für den richtigen Umgang mit Kindern.
Die Entwicklungspsychologie erforscht die Veränderungen im Lauf einer Lebensspanne, nicht nur bei Kindern.
Sie sieht dabei das gesamte Leben eines Menschen als Prozess der Veränderungen. Dieser Prozess verläuft in mehr oder weniger festgelegten Stufen. Die untersuchten Prozesse beziehen sich zum Beispiel auf Wahrnehmung, Motorik, Lernen, Denken, die Entwicklung der Sprache, auf Motivation und Gedächtnis. Die entwicklungspsychologischen Prozesse des Kleinkind-, Kinder- und Jugendalters sind besser erforscht als die des Erwachsenenalters.
Bei den meisten Entwicklungsmodellen ging man von einer festgelegten Reihenfolge der Entwicklungsstufen oder Entwicklungsphasen aus. Die wichtigsten Ansätze in der Entwicklungspsychologie kamen von René Spitz (Vom Säugling zum Kleinkind), Charlotte Bühler, Sigmund Freud, Erik Erikson und Jean Piaget.
Die Modelle Bühlers und Eriksons beziehen sich auf die gesamte Lebensspanne eines Menschen, während die Modelle von Spitz, Freud und Piaget sich nur auf bestimmte Lebensabschnitte wie Säuglingszeit, Kindheit und frühe Jugend beziehen. Auch die Ansätze der Entwicklungsmodelle unterscheiden sich. Während Freud hauptsächlich die psychosexuelle Entwicklung modellhaft darzustellen versucht, bezieht sich Bühler auf Lebensziele, Piaget auf die Entwicklung des Denkens und Erikson auf phasenspezifische Konflikte, die der Mensch während seines Lebens bewältigen muss, und die aus der Spannung zwischen Anforderungen und Bedürfnissen entstehen.
Das erste Lebensjahr
Vom ersten Atemzug an arbeiten die Sinne des Neugeborenen auf Hochtouren. Erziehung beschränkt sich zwar zunächst hauptsächlich auf Versorgung und Pflege des Babys, aber nicht nur der Körper braucht Nahrung. Für seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung ist es existentiell wichtig, dass das Neugeborene zärtlichen Körperkontakt spürt und liebevolle Zuwendung erfährt.
Das Neugeborene kann anfangs noch nicht sehen, wie wir es können. Es nimmt nur dunkel und hell wahr, Umrisse und Farbunterschiede. Seine Eltern erkennt das Baby aber am Geruch und vor allem an den vertrauten Stimmen, die es bereits im Mutterleib „gelernt“ hat. Es ist also wichtig, dass wir mit Neugeborenen sprechen oder ihnen etwas vorsingen.
Ab der sechsten Woche etwa beginnt das Baby zu lächeln, wenn es ein menschliches Gesicht – zunächst nur die Augen – wahrnimmt und erkennt. Dieses Lächeln ist ein Reflex und dient der Festigung der sozialen Beziehung zwischen der erwachsenen Bezugsperson und dem Kind. Erst mit ca. 3 Monaten kann das Baby wirklich Gesichter erkennen. In den beiden ersten Monaten nach der Geburt lernt es auch Gegenstände mit den Augen zu fixieren. Wenn Sie einen Gegenstand vor seinem Gesicht hin und her bewegen, folgt das Baby diesem mit den Augen. Nach ca. 3 Monaten sind die Sinnesorgane so weit entwickelt, dass auch weiter entfernte Gegenstände erkannt werden. Auch Geräusche nimmt das Kind jetzt differenzierter wahr. Eine Rassel oder eine Quietschente erregen seine Aufmerksamkeit, Hintergrundgeräusche sind dagegen noch uninteressant.
Im zweiten Vierteljahr werden die Hände als Greifwerkzeuge entdeckt. Das Baby versucht auch bereits gezielt nach Dingen zu greifen. Alles, was in seine Hände gerät, wird zunächst in den Mund gesteckt. Das ist seine Art, die Gegenstände kennenzulernen. Zwischen dem 6. und 8. Monat ist die Fähigkeit bekannte von unbekannten Personen zu unterscheiden voll ausgeprägt. Das Kind fängt häufig an zu weinen, wenn es Fremde sieht. Es fremdelt – ein völlig normaler Schritt in der Entwicklung des Kindes.
Mit zunehmender Schärfung der Sinne geht auch die Entwicklung der Fortbewegung einher. Das Baby robbt und rollt sich, es stützt sich auf alle Viere, denn es will weiterkommen und die Welt entdecken. Mit 10 Monaten krabbelt es überall hin. Alles wird angefasst, erfühlt und betastet – ein ganz wesentlicher Schritt um die Dinge im wahren Sinn des Wortes „begreifen“ zu können. Am Ende des ersten Lebensjahres machen viele – doch längst nicht alle – Kinder ihre ersten Gehversuche. Ein neuer Entwicklungsschritt ist erreicht. Aus dem Baby ist ein Kleinkind geworden. Die sprachliche Entwicklung äußert sich im ersten Lebensjahr in Lall-Monologen. Ab dem 6. Monat etwa werden Silben nachgeahmt, gegen Ende des 1. Lebensjahrs sprechen viele Kinder ihre ersten Worte, die so genannten Ein-Wort-Sätze.
Grenzen sollten Sie ihrem Kind im ersten Lebensjahr vor allem in der Art setzen, dass Sie es vor Gefahren schützen. Machen Sie ihre Wohnung kindersicher – und freuen Sie sich über den Entdeckerdrang Ihres Kindes. Das bedeutet aber nicht, dass Sie Ihre Lieblingsvase vom Kind entdecken lassen müssen. Kinder verstehen auch in diesem Alter schon ein ruhiges, bestimmtes und wiederholt vorgetragenes Nein.
Das 2. und 3. Lebensjahr – das Kleinkind
Im zweiten Lebensjahr verfeinert sich das Zusammenspiel der Sinne. Hat das Kind die Dinge bis jetzt hauptsächlich durch Tasten „begriffen“, tritt das Sehen nun in den Vordergrund.
Die selbstständige Fortbewegung ermöglicht die Eroberung des Raumes, die wiederum Voraussetzung für die Entwicklung des räumlichen Sehens ist. Das Gefühl für Entfernungen und Abmessungen entwickelt sich.
Die Entwicklung der Sprache erobert ebenfalls neue Räume. Das Kind zeigt mit dem Finger auf Gegenstände und möchte die Namen dafür erfahren. Indem das Kind Gegenstände benennt, verknüpft es das Sehen mit Denken und Sprache. Ihr Kind spricht jetzt wahrscheinlich bereits Zwei- und Mehrwortsätze und allmählich bildet sich auch eine Grammatik heraus, die noch nicht mit der „korrekten“ Grammatik übereinstimmt. Sie müssen das Kind in dieser Phase nicht ständig verbessern, es reicht, wenn Sie ihm richtig vorsprechen und die kindlichen Äußerungen noch einmal korrekt wiederholen. Grammatik, Satzbau und Wortschatz festigen sich erst im Lauf der Zeit. Erst mit ca. 5 Jahren ist die Sprachentwicklung im Groben abgeschlossen. Wichtig ist, dass Sie von Anfang an viel mit Ihrem Kind sprechen.
Im zweiten Lebensjahr entdeckt das Kind, das man mit bestimmten Gegenständen bestimmte Dinge tut. Es beobachtet die Handlungen der Erwachsenen und ahmt diese nach. Wir sprechen vom Lernen durch Nachahmung. Nun will das Kind teilhaben am Leben der Erwachsenen und alles tun, was diese auch tun. Alles ist interessant, es wird probiert, experimentiert und geforscht.
Ihr Kind möchte nun vor allen Dingen alles alleine tun. Sich anziehen, Knöpfe auf und zu machen. Keine Aufgabe ist so schwer, dass das Kind nicht immer wieder versuchen würde, sie zu bewältigen. Es wird probiert und geübt – ein klassisches Beispiel für das Lernen durch Versuch und Irrtum. Dabei wird jeder Versuch von den Erfahrungen der vorhergegangenen Versuche gelenkt. Das Ausprobieren bis zum Finden einer Lösung ist wichtig für das Kind, es verschafft ihm großartige Erfolgserlebnisse und stärkt so seinen Drang weitere unbekannte Dinge zu erforschen und neue Fähigkeiten zu entwickeln und zu lernen. Der Drang nach Selbstständigkeit sollte deshalb weitgehend unterstützt werden, auch wenn es am Anfang viel Mühe macht, das Kind selbst Dinge tun zu lassen, die es noch nicht beherrscht.
Mit wachsender Selbstständigkeit schreitet auch die seelische Entwicklung voran. Ihr Kind entdeckt sich selbst als eigenständige und handelnde Person. Es erkennt sich im Spiegel. Es spricht nicht mehr von sich in der dritten Person. Es entdeckt sein Ich.
Die von allen Eltern gefürchtete Trotzphase beginnt. Für Eltern ist diese Phase häufig eine harte Belastungsprobe. Auch für Kinder ist diese Phase schwierig: Auf der einen Seite steht ihr Drang nach Unabhängigkeit und Durchsetzung sowie Erprobung des eigenen Willens – auf der anderen Seite ihr Wunsch nach Geborgenheit. Dazu kommt, dass das Kind sich selbst während eines Trotzanfalls in all seiner Wut hilflos und ohnmächtig fühlt. Es erlebt den Zwiespalt zwischen „Wollen und Nicht-Können“ in seiner ganzen Dramatik.
Klare Grenzen zu setzen hilft Ihrem Kind, sich in dieser Phase zu orientieren. Es muss aber auch erfahren, dass es mit seinem Willen etwas bewirken kann. Und es muss – gerade nach einem Trotzanfall – die Sicherheit haben, liebevoll angenommen zu sein. Nur so kann es lernen Grenzen einzuhalten und seinen Willen zu steuern. Sie möchten Ihr Kind oder die Ihnen anvertrauten Kinder in ihrer Entwicklung besser verstehen? Der Fernlehrgang „Kindererziehung“ gibt Ihnen einen tieferen Einblick in die Gesetze der kindlichen Entwicklung. Fordern Sie jetzt unverbindlich und gratis Informationsmaterial darüber an.
Vom Vorschulkind zum Schulkind
In dieser Periode zwischen drei und sechs Jahren schreitet die intellektuelle Entwicklung in Siebenmeilenstiefeln voran. Ihr Kind ist voller Neugierde und Wissensdurst und fragt Ihnen Löcher in den Bauch. Es ist die Zeit der nicht enden wollenden Warum-Fragen, auch zweites Fragealter genannt.
Ihr Kind will den Dingen jetzt auf den Grund gehen. Es versucht einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Die sprachliche Entwicklung macht große Fortschritte.
Das Kind löst sich mehr und mehr von seinen Eltern und der Kontakt zu anderen Kindern bekommt jetzt Bedeutung. Mit dem Besuch des Kindergartens lernt Ihr Kind sich in eine Gruppe einzufügen. Es erprobt seine Durchsetzungsfähigkeit und erfährt, dass es auch einmal zurückstecken muss. Die soziale Entwicklung schreitet voran. Der Spaß am spielerischen Lernen wird im Idealfall im Kindergarten gefördert, so dass es gut auf den neuen Lebensabschnitt als Schulkind vorbereitet ist.
Mit dem Eintritt in die Schule ändert sich sehr viel für Ihr Kind und die ganze Familie.
Es gibt einen festen Stundenplan, es gibt Hausaufgaben, es werden Leistungen verlangt. Konnte Ihr Kind in den ersten Lebensjahren genügend Selbstvertrauen entwickeln, so ist es meist auch motiviert. Kinder wollen in der Regel in die Schule gehen, sie wollen Lesen und Schreiben lernen. Versuchen Sie diese Lust am Lernen zu erhalten, indem Sie nicht nur auf Leistung setzen. Und verplanen Sie Ihr Kind nicht völlig, denn auch „zweckfreies“ Spielen, Freizeit und Freunde sind wichtig für die Entwicklung und brauchen Raum.
Pubertät und Jugendalter
Die Pubertätsentwicklung beginnt in aller Regel bei Mädchen zwischen 9 und 13 Jahren und bei Jungen zwischen 11 und 15 Jahren. Sie ist eine der schwierigsten Entwicklungsphasen im Leben eines Menschen – eine Zeit der großen Umbrüche. Nichts ist mehr wie es wahr.
Der Körper verändert sich, der junge Mensch wird geschlechtsreif.
In dieser Phase steht der Mensch an der Schwelle zum Erwachsenenleben – nur ist er dort noch nicht angekommen. Er sitzt quasi zwischen allen Stühlen, ist nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen. Die biologischen, psychologischen und sozialen Umbrüche gehen einher mit heftigem Gefühlschaos und werden häufig auch als krisenhaft erlebt.
Der junge Mensch sucht jetzt vor allem nach Antworten auf die Fragen „Wer bin ich“ und „Wo ist mein Platz in dieser Gesellschaft?“
„Hauptaufgabe der Jugendlichen in der Pubertät ist es, sich frei zu strampeln und in dem Chaos, in das sie sich stürzen, einen Weg zu finden, mit dem sie sich identifizieren können. Irgendwo zu Beginn der Reise haben sie sich etwas vorgenommen für dieses Leben. Es zumindest ahnungsweise wieder zu finden, ist die Herausforderung der Pubertät. Das Leben auszuschmecken in all seinen (menschlichen) Höhen und Tiefen, ist unerlässlich, um sich wirklich orientieren zu können, ohne darauf angewiesen zu sein, fremdes "Wissen", fremde Erfahrung ungeprüft zu übernehmen. Zeitweilig können die jungen Menschen (sich) dabei verloren gehen. Wichtig ist, dass sie den Glauben an sich nicht ganz verlieren. Dabei können wir ihnen helfen: indem wir an sie glauben, unverbrüchlich, egal, was sie tun, egal, wie sie sich zeigen, egal, wohin sie sich verirren. Vertrauen beweist sich erst wirklich, wenn es (scheinbar) enttäuscht wird, wenn es auf die Probe gestellt wird.“ (1)
Die Aufgabe von Eltern und Erziehern ist es also, Jugendlichen in der Pubertät Vertrauen zu schenken, gleichzeitig aber auch das Gegenüber zu sein, dass die Jugendlichen brauchen. Sie suchen starke Erwachsene und keine, die sich anbiedern:
„Jugendliche während der Pubertät brauchen ein Gegenüber. Sie durch die Wirren der Pubertät zu begleiten, ist nicht immer eine dankbare Aufgabe. Wir werden für die Jugendlichen zu Projektionsflächen für alles, von dem sie sich lossagen müssen, um einen eigenen Standpunkt finden zu können. Wir repräsentieren für sie alles, was "out" ist, überholt und von gestern. Alles, was sie zwingt, anders zu sein, als sie (meinen) sein (zu) wollen. Wir werden zu Gegenspielern. Wir müssen diese Rolle auch spielen: unsere Meinungen, Haltungen, Ansichten offen(siv) vertreten, klar Stellung beziehen und Grenzen setzen. Aber auch zuhören, ernsthaft zuhören und Interesse zeigen. Vertrauen, Interesse und Standhaftigkeit sind die Hauptkräfte, die Jugendlichen helfen, heil durch die Wirren der Pubertät zu finden.“ (2)
Ist diese Entwicklungsphase geglückt, bedeutet sie auch das Ende der Erziehung. Was vor der Pubertät nicht erreicht wurde, kann durch Erziehung nicht mehr erreicht werden. An die Stelle von Erziehung muss jetzt die Beziehung getreten sein.
(1,2) Jörg Undeutsch: Zwölf Thesen zur Pubertät, 2. These und 3. These zitiert nach www.PubertätVerstehen.ch (existiert nicht mehr)
Nie zuvor war die Verunsicherung über Erziehung größer als heute. Gerade weil wir alles richtig machen wollen, sind wir orientierungsloser denn je.
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